Politische Partizipation
Situationsanalyse: Menschen mit einer Sehbehinderung können ihre politischen Rechte nicht autonom und selbstbestimmt wahrnehmen. Grund dafür ist die im Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) festgehaltene Bestimmung, dass bei Abstimmungen und Wahlen nur die amtlichen Stimm- und Wahlzettel benützt werden dürfen und das Ausfüllen handschriftlich erfolgen muss (Art, Abs. 1 und 2 BPR). Menschen mit Sehbeeinträchtigung sind nicht schreibunfähig, können sich aber nicht ohne Hilfe auf den Unterlagen orientieren. Dass sie heute eine Assistenzperson beiziehen müssen, um die Abstimmung- oder Wahlunterlagen auszufüllen, erfüllt den Tatbestand der Diskriminierung. Gleichzeitig verletzt dies Art. 5, Abs. 7 BPR, wonach das Stimmgeheimnis zu wahren ist.
Im Sinne von Art. 8, Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung muss deshalb so rasch wie möglich ein vollständig hindernisfreies E-Voting-System offiziell und ohne Einschränkung gesamtschweizerisch eingeführt werden. Damit könnte die autonome Teilhabe an den politischen Rechten gemäss der UNO-BRK auf allen politischen Ebenen sowohl bei Wahlen wie bei Abstimmungen erreicht werden. Die Einführung von Schablonen bei nationalen Abstimmungen könnte die politischen Rechte sehbehinderter Menschen. in naher Zukunft punktuell verbessern, da so die Wahrung des Stimmgeheimnis bei nationalen Abstimmungen ermöglicht werden kann. Ein entsprechender politischer Vorstoss ist in den Nationalrat überwiesen worden.
Forderung des UNO-Ausschusses: Der UNO Ausschuss prangert in seinem Bericht den mangelnden Zugang zu Informationen über die öffentliche Politik und den Zugang zu Entscheidungsprozessen an und betont die eingeschränkten Möglichkeiten zur Beteiligung in allen Phasen dieser Prozesse. Der UNO-Ausschuss fordert "die Gewährleistung der Zugänglichkeit des Abstimmungsverfahrens für alle Menschen mit Behinderungen".
Zugänglichkeit aller Bereiche des öffentlichen Lebens
Situationsanalyse: Die Organisationen des Blinden- und Sehbehindertenwesens stellen fest, dass im Bereich der Zugänglichkeit im öffentlichen Raum, beim öffentlichen Verkehr, bei Dienstleistungen sowie im Bereich der Informationen und Kommunikation weitgehend ein koordiniertes Vorgehen fehlt. Die Umsetzung der BRK wird nicht konsequent verfolgt und es fehlt ein nationaler Aktionsplan. Im föderalistischen System der Schweiz gibt es grosse Unterschiede in der Umsetzung oder der Auseinandersetzung mit der Thematik. So endet bspw. die 20-jährige Umsetzungsfrist zur Herstellung der Barrierefreiheit von Bauten, Anlagen und Fahrzeugen im öffentlichen Verkehr mit der ernüchternden Feststellung, dass diese Frist nicht eingehalten werden kann.
Für private Anbieter von elektronischen Dienstleistungen besteht keine Pflicht, deren Zugänglichkeit zu gewährleisten. So sind viele Internetseiten, Apps, elektronische Dokumente oder auch Automaten für Menschen mit einer Sehbehinderung nicht zugänglich und autonom nutzbar.
Forderung des UNO-Ausschusses: Der UNO Bericht moniert "das Fehlen einer umfassenden Zugänglichkeitsstrategie zur Harmonisierung der Zugänglichkeitsverpflichtungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, zur Verankerung universeller Designstandards und zur Einbeziehung aller Zugänglichkeitsbereiche, einschließlich des öffentlichen Verkehrs, der Gebäude und Einrichtungen, der öffentlichen Räume, der Dienstleistungen, des Bauwesens sowie des physischen, des Informations-, des Kommunikations- und des digitalen Zugangs."
Der UNO-Ausschuss sieht einen negativen Trend darin, dass die verstärkte Anwendung von EU-Normen niedrigere Anforderungen an die Zugänglichkeit festlegt und die Fähigkeit von Menschen mit Behinderungen und ihren Vertretungsorganisationen einschränkt, sich für ein höheres Mass an Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens einzusetzen.
Dieses Vorgehen und Festhalten an EU-Normen wurde zuletzt am Beispiel des FV-Dosto praktiziert. Zum Leidwesen der betroffenen Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit. Inclusion Handicap hatte dagegen beim Bundesgericht geklagt und es konnten auf dem Rechtsweg Verbesserungen erwirkt werden.
Zugänglichkeit von Kommunikation und Information
Situationsanalyse: Für Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit sind heute noch immer sind zahlreiche Informationen, Publikationen, Websites (siehe Schweizer Accessibility-Studie Onlineshops) und Apps nicht barrierefrei zugänglich. Die Schriftgrösse in öffentlichen Dokumenten ist häufig zu klein, so dass die Informationen für Sehbehinderte kaum lesbar sind. Die Gesetze sollten sämtliche öffentliche Stellen, Webentwickler usw. verpflichten, ihre Informationen in einer zugänglichen Form zu publizieren. Im öffentlichen Raum sollten alle relevanten Informationen (Hinweisschilder, Abfahrtstabellen, etc.) gemäss dem Zweisinnesprinzip nicht nur visuell, sondern auch akustisch oder taktil abrufbar sein.
Auch Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit sind darauf angewiesen, Zugang zu alternativen Kommunikationsformaten und Kommunikationsassistentinnen und Assistenten zu haben, damit ein möglichst selbständiges Leben gelingen kann. Insbesondere spätertaubte Taubblinde, für die die Gebärdensprache eine Fremdsprache bleibt, haben heute keine Finanzierungsmöglichkeiten für Schriftdolmetscher im nichtberuflichen Bereich (z.B. für Arztbesuche, Abklärungen für Haushalthilfen usw.). Zurzeit beruht der Zugang zu Kommunikation auf vielen freiwilligen Begleitpersonen. Auf diese haben Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit allerdings keinen Anspruch. Und auch die Qualität der Begleitung ist sehr unterschiedlich, weil es keine Qualitätskontrolle gibt.
Forderung des UNO-Ausschusses: Im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Informationen betont der Ausschuss, es gelte genügend Mittel bereit zu stellen "für die Entwicklung, Förderung und Nutzung zugänglicher Kommunikationsformate wie Braille-Schrift, Dolmetscher für Taubblinde Menschen, Gebärdensprache, Einfache Sprache, Audiodeskription, Untertitel sowie taktile, unterstützende und alternative Kommunikationsmittel".
Der UNO-Ausschuss mahnt explizit zur "zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken und zur Verbesserung der Verfügbarkeit zugänglicher veröffentlichter Werke." Der UNO Ausschuss fordert von der Schweiz zudem die Entwicklung rechtsverbindlicher Informations- und Kommunikationsstandards auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, um die Zugänglichkeit von Informationen für die Öffentlichkeit zu gewährleisten, auch bei öffentlichen Veranstaltungen und auf Websites, im Fernsehen und in den Medien.
Zugang zu Assistenz
Situationsanalyse: Ein aus Sicht des Sehbehindertenwesens ebenfalls wichtiges Thema ist der Zugang zu Assistenzleistungen. Da sich die Bedarfsermittlung sehr stark am regelmässigen Hilfebedarf bei alltäglichen Lebensverrichtungen orientiert, können die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen nur unzureichend behindertenspezifisch erfasst werden. Beim Assistenzbeitrag der IV sind die Assistenzpersonen mit einem Arbeitsvertrag anzustellen. Angehörige sind heute nicht als Assistenzpersonen anerkannt und werden nicht entschädigt. Dienstleistungen können nicht auf Honorarbasis eingekauft werden. Die Rolle des Arbeitgebers verursacht einen nicht zu unterschätzenden administrativen Aufwand, der wiederum für blinde und sehbehinderte Menschen nur mit entsprechender Assistenz zu bewältigen ist.
Weitergehende Assistenzleistungen auf kantonaler Ebene sind sehr zu begrüssen, müssen aber landesweit koordiniert werden. Ohne nationale Koordination entstehen gravierende Lücken.
Auch die Bedürfnisse von Menschen mit einer Hörsehbehinderung und Taubblindheit können heute durch von der IV gewährten Assistenz nicht abgedeckt werden. Der zusätzliche Zeitbedarf in der Bewältigung des Alltags wird von der IV nicht berücksichtigt. Zudem werden Begleitpersonen von den Ergänzungsleistungen nicht zurückvergütet. Nur Transportkosten zu ärztlichen Terminen werden von der Sozialversicherung anerkannt. Dass Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit ohne Begleitperson evtl. gar nicht zum Arzt gehen kann, wird nicht berücksichtigt.
Forderung des UNO-Ausschusses: Hierzu hält der UNO-Ausschuss fest, dass eine Stärkung der persönlichen Assistenz und der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen notwendig sei, "damit diese unabhängig in der Gemeinschaft leben können".
Zugang zum Arbeitsmarkt
Situationsanalyse: Unter Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung herrscht generell eine höhere Erwerbslosigkeit und niedrigere Erwerbstätigkeit: Es braucht mehr angepasste Arbeitsstellen auf dem offenen Arbeitsmarkt und verpflichtende Konzepte zur beruflichen Inklusion von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung.
Dies stellt auch der UNO-Ausschuss fest. Er registriert mit Sorge, dass Menschen mit Behinderungen lediglich auf dem "geschützten Arbeitsmarkt" mit sehr niedrigen Löhnen eine Chance hätten und begrenzte Möglichkeiten des Übergangs auf den offenen Arbeitsmarkt bestehen".
Forderungen des UNO-Ausschusses: So fordert auch der UNO-Ausschuss die "Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden Aktionsplans zur Harmonisierung der Zuständigkeiten von Bund und Kantonen, um den Übergang von Menschen mit Behinderungen vom "geschützten Arbeitsmarkt" zum offenen Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor zu ermöglichen, mit gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit, in einem inklusiven Arbeitsumfeld und mit Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung".
Es sollen Massnahmen ergriffen werden zur "Steigerung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt, auch im privaten Sektor, durch geeignete politische Massnahmen wie Zielvorgaben, positive Aktionsprogramme und Anreize".
Zugang zu Bildung
Situationsanalyse: Die Organisationen des Schweizer Sehbehindertenwesens halten fest, dass das Bildungssystem noch längst nicht inklusiv ist. Der Föderalismus wird als grösste Herausforderung gesehen, da die Kantone im Bildungsbereich sehr unterschiedlich unterwegs sind. Heute tragen Kantone mit einer spezialisierten Schule und / oder einem ambulanten Angebot für die Unterstützung der Lernenden der Inklusion besser Rechnung. Aber es ist immer noch Zufall, ob ein Kind umfassende Chancen auf inklusive Bildung erhält. Wenn Schülerinnen und Schüler in der Regelschule integriert werden, müssen sie vieles neben der Schule lernen, was andere Kinder nicht müssen: Umgang mit der IT, Lebenspraktischen Fähigkeiten, Orientierung und Mobilität, Umgang mit ihren Hilfsmitteln, ggf. Braille. Dieses vielfältige Zusatz-Lernen wird heute vom System nicht berücksichtigt oder einkalkuliert, belastet die Kinder zusätzlich (Zeit und Energie) oder kann nicht ermöglicht werden.
Forderungen des UNO-Ausschusses: Das Sehbehindertenwesen der Schweiz begrüsst daher die Forderung des UNO-Ausschuss nach "Einführung eines verfassungsmässigen Rechts auf inklusive Bildung und Entwicklung einer umfassenden Strategie für die Umsetzung einer qualitativ hochstehenden, inklusiven Bildung für alle Kinder mit Behinderungen […] mit spezifischen Zielvorgaben, Zeitplänen, Budgets, dem Transfer von Ressourcen aus Sonderschulen sowie inklusiven Lehrplänen und Lehrerqualifikationen auf Bundes- und Kantonseben".